Behinderte Menschen leben von Taschengeld

Am 3. Dezember war der internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Diese gelten heute in unserer westlichen Gesellschaft als integriert und gleichberechtigt. Doch entspricht dieses Bild nach außen der Realität? 23.500 Menschen in Österreich arbeiten in Behindertenwerkstätten, wo sie für ihre täglich erbrachten Leistungen gerade einmal ein monatliches Taschengeld in der Höhe von 60 bis 150 Euro erhalten. Wir glauben, damit sind sie alles andere als gleichberechtigt.

KEIN LOHN FÜR ARBEIT IN WERKSTÄTTEN

23.500 körperlich und geistig beeinträchtigte Menschen arbeiten in Österreich in Behindertenwerkstätten, welche auch Tageseinrichtungen oder Tagesstrukturen genannt werden. Ist doch toll, könnte man meinen, schließlich haben sie dort trotz ihrer körperlichen und geistigen Einschränkungen eine sinnvolle Beschäftigung. Eine Behindertenwerkstätte ist jedoch eine „Verwahrung“ und „therapeutische Maßnahme“ und keine echte Arbeitsstelle. Es handelt sich also nicht um Erwerbsarbeit, obwohl die behinderten Menschen dort sehr wohl wertvolle Arbeit leisten. Wer in einer Tagesstruktur landet, wurde zuvor als „arbeitsunfähig“ eingestuft und somit vom regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Es gibt für diese Person keine Chance mehr auf einen Job im öffentlichen Dienst oder in der Privatwirtschaft. So ergeht es etwa der Hälfte der Menschen in Österreich, die eine geistige oder körperliche Beeinträchtigung haben. Belohnt wird die Tätigkeit in den Werkstätten nicht in Form eines Gehalts, sondern eines Taschengeldes, das je nach Bundesland zwischen 60 und 150 Euro beträgt. Außerdem leistet sie keine Sozial,- Kranken- oder Pensionsversicherung, das bedeutet, eine Mitversicherung bei einem Elternteil oder sonstigen Angehörigen ist notwendig.

DIAGNOSE „ARBEITSUNFÄHIG“

Viele behinderte Menschen bekommen schon früh den Stempel „arbeitsunfähig“ aufgedrückt, was bedeutet, dass sie nicht in den allgemeinen Arbeitsmarkt einsteigen können. Dann ist die Beschäftigung in einer Werkstatt die einzige Option. Die Entscheidung, ob jemand arbeitsfähig ist oder nicht, beruht auf rein medizinischen Kriterien. Arbeitsfähig ist, wem eine Leistungsfähigkeit von mehr als 50% zugeschrieben wird. Ob die Person den Wunsch hegt, zu arbeiten oder wieviel Unterstützung von ihrem Umfeld ausgeht, wird nicht berücksichtigt. Ist die Arbeitsunfähigkeit erst einmal „diagnostiziert“, wird man sie selten wieder los.

GEFAHR ALTERSARMUT

Besonders im hohen Alter rächt sich die Beschäftigung in den Behindertenwerkstätten, da während der vielen Jahre, in denen man ja eigentlich berufstätig war, nicht in die Pensionskasse eingezahlt wurde. Wenn die Angehörigen nicht rechtzeitig vor ihrem Ableben vorgesorgt haben, droht den Betroffenen die Altersarmut. Man lässt sie den Großteil ihres Lebens betreuen und unbezahlt arbeiten, irgendwann entlässt man sie in den Ruhestand und ab diesem Zeitpunkt fühlt sich keiner mehr für sie zuständig. Behindertenvertreterinnen und -vertreter fordern daher, dass behinderte Menschen in Zukunft nicht wie Kinder behandelt werden, sondern sich wie nichtbehinderte Erwachsene selbst versichern können.

WIEVIEL IST ARBEIT WERT?

In den Tageseinrichtungen werden Dinge produziert und Dienstleistungen verrichtet, die für die Gesellschaft von großem Nutzen sind. Die Lebenshilfe Wien hat insgesamt sechs Werkstätten mit einer Vielfalt an Arbeitsmöglichkeiten. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Es werden Alltagsgegenstände und Kunstwerke aus Holz, Keramik und Papier hergestellt, es wird genäht und bestickt, das Catering für Veranstaltungen wird genauso übernommen wie Aufträge von Firmen, wie etwa das Kuvertieren, Sortieren und Ordnen von Dokumenten. Es gibt auch die sogenannte mobile Gruppe, die privaten Kunden oder Firmen beim Übersiedeln oder Entrümpeln behilflich ist oder Fertigteilmöbel zusammenbaut. Je nach ihren Interessen und Stärken übernehmen die „Besucherinnen und Besucher“ der Werkstätten gewisse Aufgaben.

KAPITALISMUS SCHLIESST BEHINDERTE AUS

Wir leben in einem kapitalistischen System, das nur die klassische Erwerbsarbeit als Arbeit anerkennt. Je produktiver und effizienter, desto mehr ist eine Tätigkeit wert. Der Mensch selbst bleibt dabei auf der Strecke. Menschen mit Behinderung sind am Arbeitsmarkt unserer Gesellschaft nicht erwünscht, weil sie oft nicht dieselbe Leistung innerhalb derselben Zeit erbringen können wie andere – und weil die Ressourcen, die sie bräuchten, nicht zur Verfügung gestellt werden wollen (z.B. eine Assistenz als Unterstützung). Wenn wir zulassen, dass behinderte Menschen in Werkstätten ohne ordentliche Bezahlung arbeiten, wird impliziert, dass sie für unsere Gesellschaft nicht von gleichem Nutzen, und somit weniger wert sind. Das gilt im Übrigen auch für Frauen: Sie leisten viele Stunden an Nicht-Erwerbsarbeit, wie die Pflege von alten und kranken Angehörigen, Kinderbetreuung und Haushalt. Der Staat sollte auch diese Formen von Arbeit wertschätzen und würdigen. Solange das nicht passiert, sind wir leider noch weit entfernt von einer gleichberechtigten Gesellschaft.

GEGEN DIE BEHINDERTENRECHTSKONVENTION

Die Behindertenrechtskonvention der UN besagt, dass jedes Land einen Arbeitsmarkt schaffen muss, der es „allen Menschen mit Behinderungen ermöglicht, ihren Lebensunterhalt, ihre Sozialversicherung und Altersvorsorge über ein ausreichendes Erwerbseinkommen zu bestreiten“. Laut der Lebenshilfe entsprechen die derzeitigen Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten in Österreich nicht diesem Standard.

GEHALT STATT TASCHENGELD

Mit ihrer Kampagne „Gehalt statt Taschengeld!“ macht die Lebenshilfe Österreich schon seit 2019 auf das Thema aufmerksam und fordert eine faire Bezahlung – aber nicht nur: Die Tagesstruktur soll zwar nicht abgeschafft werden, der Übergang zwischen ihr und dem allgemeinen Arbeitsmarkt soll aber erleichtert werden. Um eine Eingliederung von behinderten Menschen in den Arbeitsmarkt zu erreichen, sollen Betriebe mehr Anreize bekommen, zum Beispiel in Form eines höheren Lohnkostenzuschuss. Außerdem soll die 50 Prozent-“Marke“ der Arbeits(un)fähigkeit abgeschafft werden. Diese Grenze ist willkürlich und wertend – jeder Mensch ist auf seine Art wertvoll und kann etwas Gutes zur Gesellschaft beitragen. Menschen, die in Behindertenwerkstätten tätig sind, sollen außerdem genauso wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer pensions- und sozialversichert werden.

SYSTEM DER „AUFBEWAHRUNG“ UND UNGLEICHHEIT BEENDEN

In Deutschland findet man auch viele behinderte Menschen in Werkstätten vor. Laut Zeit Online sind in Deutschland lediglich 30 Prozent aller Menschen mit Behinderung in den allgemeinen Arbeitsmarkt integriert. Der vierzigjährige Deutsche André Thiel, der selbst eine Behinderung hat und sich seit vielen Jahren für die Inklusion von behinderten Menschen in die Arbeitswelt einsetzt, erklärt: „Das System der Werkstätten hat weder mit Rehabilitation noch mit der Teilhabe am Arbeitsleben zu tun. Letztendlich geht es darum, dass diese Personengruppen tagsüber betreut werden“. Da er selbst in diesem System gefangen war, weiß er, wie ungerecht es ist. Er reichte sogar eine Klage gegen seine Werkstätte ein, womit er erreichen wollte, dass die Beschäftigten mit Behinderung mit den Angestellten der Einrichtung (ohne Behinderung) finanziell gleichgestellt werden. Seiner Meinung nach sollten im Arbeitsleben für alle die gleichen Rechte und Verpflichtungen gelten. Er meint, wer behindert ist, brauche keinen Betreuer am Arbeitsplatz, sondern eine Assistenz –  aber das Kapital sei nunmal wichtiger als der Mensch.